„Klimaziele waren bisher nachrangig bei der Landnutzung“

Prof. Martin Herold vom Geoforschungszentrum (GFZ) Potsdam beobachtet Änderungen der Erdoberfläche und ihre Landnutzung. Er weiß, wo Wälder gefällt werden und zu welchem Zweck. Im Interview erklärt er, wie seine Forschung zu mehr Transparenz der Lieferketten beiträgt.

Prof. Dr. Martin Herold
Prof. Martin Herold leitet seit 2022 die Sektion Fernerkundung und Geoinformatik am GFZ Potsdam.

Herr Herold, wie hat sich die Landnutzung in den letzten Jahrzehnten verändert, global gesehen?

Die Landoberfläche verändert sich ständig. Es gibt natürliche Prozesse, aber man muss schon klar sagen, in den letzten Jahrzehnten hat vor allem der Mensch die Landoberfläche massiv verändert. Das wissen wir aus verschiedenen Datenquellen, von alten Karten bis hin zu moderner Satellitenfernerkundung.

Sie gehen ins Antiquariat und besorgen sich Karten?

Die alten topografischen Karten, gerade in Europa, sind ein großer Fundus. Die Kartierung war militärisch motiviert. Deswegen sind Wälder und Feuchtgebiete besonders gut aufgenommen, weil man da nicht mit einer Armee durchmarschieren kann. Aber das ist natürlich eine alte Datenquelle. Heute nutzen wir vor allem Satellitendaten. Je genauer wir hinschauen, umso mehr Veränderungen sehen wir in der Landnutzung.

Weil die Veränderungen zunehmen oder weil Sie diese besser erfassen können?

Kleine Veränderungen konnten wir früher nicht erkennen, heute aber schon. Es gibt Phasen, in denen die Veränderung zu- oder abnimmt. Nehmen wir mal tropische Entwaldung. Die nimmt in gewissen Gebieten zu und dann irgendwann wieder ab. Wahrscheinlich, weil dann der Wald so weit abgeholzt ist wie möglich.

Können Sie regionale Unterschiede in der Dynamik feststellen?

In Lateinamerika nahm die Entwaldung zu, ging dann aufgrund politischer Regulatorik zurück und ist nun wieder gestiegen. In Afrika sehen wir gerade in den letzten fünf bis zehn Jahren eine massive Zunahme, gerade im Kongo-Becken.

Was sind die Ursachen?

Das hat einerseits mit Bevölkerungswachstum zu tun. Andererseits aber auch damit, dass zunehmend internationale Unternehmen in diese Gebiete vorstoßen zur Nahrungsmittelproduktion. Landwirtschaftliche Flächen breiten sich auch in Afrika in den letzten Jahren massiv aus. Und wenn man die letzten 50, 60 Jahre betrachtet: Der flächenmäßig größte Veränderungsprozess ist die Ausbreitung der Landwirtschaft inklusive der Weidelandnutzung.

Wie trägt die veränderte Landnutzung zum Klimawandel bei?

Der Wald ist ein großer Kohlenstoffspeicher. Tropenwälder enthalten durchaus 300, 400 Tonnen Kohlenstoff pro Hektar, in Europa sind es etwa 100, 150 Tonnen. Wenn man diese Wälder abholzt, verbrennt oder verrotten lässt, geht der Kohlenstoff in die Atmosphäre über und trägt zum Klimawandel bei.

Kann man den Prozess umkehren?

Man kann Kohlenstoff auch wieder in die Erdoberfläche zurückbringen. Unser Wald in Europa und weltweit ist eine große Kohlenstoffsenke. Trotz aller Entwaldung nimmt der Wald weltweit netto mehr Kohlenstoff auf als er abgibt. Das ist ein wichtiger Klimaservice, den wir im Augenblick umsonst bekommen, denn ohne ihn wäre der Klimawandel noch viel, viel schlimmer.

Nationalpark
Intakte Wälder dienen als wertvolle Kohlenstoffspeicher.

Gibt es Hoffnung, dass die Senkenfunktion ausgebaut werden kann?

In Europa hatten wir mal eine sehr gute Waldsenkenfunktion. Jetzt aber lässt sie uns langsam im Stich. Durch den Klimawandel kommt es zu mehr Trockenheit, was unsere Wälder – auch in Deutschland – schädigt. Die Wälder werden außerdem immer älter und nehmen damit weniger Kohlenstoff auf als jüngere. Eine Verjüngung ist schwierig, weil man nicht weiß, welche Arten dem Klimawandel standhalten. In den Tropen beobachtet man in vielen Gebieten einen Nettoverlust an Kohlenstoff.

Um die Entwaldung zurückzudrängen, hat die EU mit dem Gesetz zu entwaldungsfreien Lieferketten eine neue Rechtsgrundlage geschaffen. Was können die Technologien, die Sie nutzen, dazu beitragen?

Die neue Regelung der EU ist sehr wichtig, weil ein Policy Framework geschaffen wird, um die Ursachen der Entwaldung anzugehen. Unsere Forschung trägt dazu bei, die Lieferketten nachvollziehbar und transparent zu machen. Wir sind hauptsächlich mit Satelliten aktiv. Dadurch können wir sehen, wenn irgendwo Wald abgeholzt wird, und wie das Land anschließend genutzt wird: Wird dort großflächig Viehwirtschaft betrieben? Oder ist das Wanderfeldbau von kleinen Produzentinnen und Produzenten?

Und die Lebensmittel können dahin zurückverfolgt werden?

Einer der wichtigsten Punkte, um Transparenz herzustellen, ist die geografische Herkunft von Waren. In Zukunft soll an jeder Ware eine Koordinate dranhängen. Damit kann man (theoretisch) mit Satellitendaten nachverfolgen, ob im konkreten Gebiet die Landnutzung übereinstimmt, und ob diese Fläche in der nahen Vergangenheit entwaldet wurde. Um dann besser feststellen zu können, ob die entsprechenden Nahrungsmittel mit Entwaldung in Verbindung stehen. Satellitendaten stehen dafür frei zu Verfügung. In Kombination mit geografisch detaillierten Koordinaten kann man so mehr Transparenz und Nachverfolgbarkeit herstellen.

Das ist technisch also durchaus möglich?

Es ist ein bisschen Aufwand. Der sich lohnt, denn dann kann sich niemand mehr verstecken. Wenn ich ein gutes Lieferkettenmanagement habe, weiß ich, wo meine Ware und die Vorprodukte herkommen.

Das ist ein großer Schritt, um der Erreichung des SDG 12 näher zu kommen. Wir wissen dann besser, wo ein Lebensmittel angebaut wurde und ob es in Zusammenhang mit Entwaldung steht. Wenn ja, darf es nicht mehr in der EU verkauft werden. Welche neuen Möglichkeiten eröffnet die Auswertung von Satellitendaten für die Rückschlüsse auf die Landnutzung?

Wir haben in Europa das beste Erdbeobachtungsprogramm weltweit. Das Copernicus-Programm der Europäischen Union und der Mitgliedsstaaten stellt kostenlos hochqualitative Fernerkundungsdaten zur Verfügung, und zwar für jeden weltweit. Zusätzlich gibt es einen kommerziellen Markt, auf dem sehr hochauflösende Daten angeboten werden, die dann etwas kosten, aber noch detaillierte Daten liefern können. Eine weitere wichtige Grundlage sind GPS-Satelliten, auch da haben wir mit Galileo ein europäisches System. Wir nutzen für unsere Forschung die Kombination aus zwei Satellitentechniken: Die Erdbeobachtung, die die Landnutzungsveränderung erfasst, und die Navigationstechnik, die die Koordinaten genau erfasst.

Wie groß muss ein Feld sein, damit Sie es erkennen können?

Mit den europäischen, kostenlosen Copernicus-Daten erreichen wir eine Auflösung von 10 x 10 Metern. Und wenn man es ganz genau wissen will: Es gibt kommerzielle Anbieter, die bieten 50 x 50 cm-Daten an. Aber wie gesagt sind diese nicht kostenlos.

Die Künstliche Intelligenz (KI) ist derzeit in aller Munde. Inwiefern nutzen Sie das Maschinenlernen?

Die KI ist eine Methode, die uns hilft, noch größere Details aus den Daten herauszuholen, gerade bei der Frage nach der Art der Landnutzung, etwa ob Soja oder Kakao angebaut wird. Landnutzung ist relativ komplex, da helfen uns KI-trainierte Algorithmen deutlich besser als die klassischen Methoden. Für uns ist das allerdings bereits Mainstream. Das Wichtigste sind gute Daten. Ohne gute Daten kann man die tollste KI-Methode einsetzen, aber sie liefert dann keine exakten Ergebnisse.

Zertifiziertes Tropenholz aus einem Nationalpark
Im Rahmen der Landnutzungsplanung müssen auch Fragen zur Ausgewogenheit von Entnahme und Regenerationsfähigkeit des Waldes berücksichtig werden.

Sie können erkennen, welche Feldfrüchte angebaut werden, aber ein Wald ist von oben gesehen eine grüne Masse. Können Sie auch erfassen, ob eine nachhaltige Entnahme stattfindet oder nicht?

Das ist eine aktuelle Forschungsfrage. Wir sehen etwa, wenn eine Straße angelegt und rechts und links Bäume entnommen werden. Und da stellt sich die Frage: Kann sich der Wald noch selbst regenerieren? Dazu laufen Studien. In Zukunft muss bei der Planung für die Landnutzung einberechnet werden, inwiefern die Intensität der Entnahme in Balance steht mit der natürlichen Walderneuerung.

Wir benötigen aber Holz, das heißt, man kann nicht alle Wälder unter Schutz stellen und nichts mehr entnehmen.

Genau, es müssen auch Nahrungsmittel produziert werden. Man muss die Landnutzung aber so steuern, dass sie nicht auf Kosten der Wälder geht und nicht besonders schützenswerte Gebiete beeinträchtigt. Das hatte bisher geringe Priorität. Biodiversitäts- und Klimaziele waren häufig nachrangig in Landnutzungsprozessen. Es ist wichtig, dass diese Zusammenhänge jetzt betrachtet werden, und da ermöglicht die Fernerkundung mehr Transparenz.

Wie kommen Ihre Informationen nun zu den Entscheidungsträgern?

Da sind Plattformen wie die KfW und die Zusammenarbeit mit der Europäischen Kommission wichtig. Die KfW hat die bedeutende Rolle, Expertise zusammenzubringen. Wir selbst unterhalten am GFZ ein sogenanntes Fern-Lab zum Transfer von Daten und Technologie, um Daten und Expertise an verschiedene Nutzer weiterzureichen.

Wer bekommt denn diese Daten?

Alle Daten stehen der Allgemeinheit zur Verfügung, z. B. via Copernicus oder Global Forest Watch vom World Resources Institut (WRI). Wenn Entwaldung oder Straßenbau entdeckt werden, die auf ein geschütztes Gebiet zulaufen, löst dies einen Alarm aus (Forest Disturbance Alerts). Nichtregierungsorganisationen nutzen diesen Service.

Welche Daten werden in Zukunft nutzbar sein?

Es wird eine neue Qualität von Daten geben, und Deutschland ist da mit dem ENMAP-Program führend. ENMAP als Hyperspektralsatellit nimmt Strahlung über 200 Bänder wahr, etwa Infrarotstrahlung. Aus solchen Daten kann man sehr detaillierte Materialeigenschaften ableiten. Wenn ich auf Wasser schaue, kann ich sehen, was ist in dem Wasser drin, etwa an Schwebstoffen. Wenn ich Pflanzen sehe, erkenne ich den Chlorophyll- und Stickstoffgehalt. Wenn ich geologische Flächen betrachte, bestimme ich die Mineralien des Gesteins. Und dann arbeiten wir an einer dreidimensionalen Erfassung der Erdoberfläche. Dann sehe ich nicht nur, da ist Wald, sondern auch, wie hoch und strukturiert ist der Wald? Das sind spannende Fragen, an denen wir geraden forschen, die wieder neue, faszinierende Möglichkeiten eröffnen.

Das Interview führte Dr. Charlotte Schmitz