INTERVIEW MIT DR. JÜRGEN ZATTLER

„Die Krisen haben System“

Dr. Jürgen Zattler, ehemaliger BMZ-Abteilungsleiter für Internationale Entwicklungspolitik und Vereinte Nationen, Agenda 2030, gesellschaftliche und ökologische Transformation, Klima, im Interview mit Friederike Bauer über Armut und Entwicklungspolitik in Zeiten verschiedener, sich überlagernder Krisen. Solange wir nicht nachhaltiger wirtschaften, entstehen immer neue Bruchstellen, lautet sein Urteil.

Veröffentlicht am 17. Oktober 2022, aktualisiert am 17. Oktober 2023.

Porträt von Jürgen Zattler
Dr. Jürgen Zattler, ehemaliger BMZ-Abteilungsleiter für Internationale Entwicklungspolitik und Vereinte Nationen, Agenda 2030, gesellschaftliche und ökologische Transformation, Klima.

Wir leiden derzeit unter mehreren Krisen auf einmal. Machen wir bei den SDGs einen Schritt vor und zwei zurück?

In gewisser Weise schon, auch wenn ich es so nicht ausdrücken würde. Die Entwicklungsländer haben in den vergangenen 20 Jahren große Fortschritte gemacht. Dieser positive Trend zeigte sich beim Wirtschaftswachstum und bei den Armutsraten, die stark zurückgegangen sind. Und das nicht nur in China, sondern zum Beispiel auch in Afrika. Die derzeitigen Krisen haben diese Entwicklung gestoppt; auch die Ungleichheit zwischen und innerhalb Staaten nimmt wieder zu. Beides halte ich für eine große Herausforderung. Außerdem wurde und wird dieses Wachstum auf Kosten der Natur erzielt – hier stoßen wir an Grenzen oder haben sie schon überschritten.

Ist es eine Illusion, dass wir Wirtschaftswachstum und Nachhaltigkeit verbinden können? Müssen wir doch irgendwann auf breiter Front Verzicht üben?

Darüber gibt es auch unter Wissenschaftlern eine intensive Diskussion. Ich selbst tendiere zu der Ansicht, dass sich beides verbinden lässt. Wenn wir unsere Wirtschaft auf Nachhaltigkeit umsteuern, sind damit hohe Investitionen verbunden. Und die bedeuten Arbeit und Einkommen. Das gilt zum Beispiel für den Energiesektor. Hier müssen wir massiv investieren; das schafft Nettoeinkommen und Wirtschaftswachstum.

Sie glauben also, wir können das ohne Abstriche schaffen?

Könnte sein, dass der Konflikt zwischen Rohstoffverbrauch und Wirtschaftstätigkeit irgendwann schärfer zutage tritt und wir dann anders handeln müssen. Aber im Moment halte ich diesen Konflikt nicht für das Kernproblem, sondern eher, die nötigen Investitionen in diese Entwicklung zu Nachhaltigkeit zu mobilisieren. Viele Krisen, die wir gerade erleben, haben im Kern eine Ursache: Unser Wirtschafts- und Konsumverhalten ist nicht nachhaltig. Und dorthin müssen wir kommen, sonst werden wir weiterhin Entwicklungsfortschritte verlieren und mehr Armut produzieren.

Gehen wir auf zwei der Krisen, die uns derzeit sehr beschäftigten, noch etwas genauer ein: zunächst kam die Corona-Pandemie und dann auch noch der Krieg in der Ukraine. Was bedeutet das für die Entwicklungsländer?

Durch die aktuellen Herausforderungen – Pandemie und der russische Angriffskrieg – hat sich die Armutssituation weltweit verschlechtert. Wir hatten vorher noch etwa 700 Mio. arme Menschen auf der Welt, sogar ein bisschen weniger, trotz steigender Weltbevölkerung. Inzwischen hat dieser Wert um mindestens 100 Mio. Menschen zugenommen, nach manchen Schätzungen sogar um bis zu 300 Mio. Menschen. Die Zahl ist jedenfalls massiv gestiegen. Man darf nicht vergessen: Das sind ja nicht nur abstrakte Zahlen, sondern dahinter stecken viele, viele tragische Einzelschicksale. Wir sehen insgesamt einschneidende Folgen für die Entwicklungsländer, die den eigentlich positiven Trend der vergangen zwei Jahrzehnte zum Halten gebracht oder sogar abgeschwächt haben.

Frau mit Hut wühlt im Müll, im Hintergrund Versace
Die derzeitigen Krisen haben errungene Fortschritte bei der Armutsbekämpfung zunichte gemacht.

Manche meinen, in Wahrheit zahlten die Armen für den Krieg in der Ukraine, weil sie unter den seither gestiegenen Lebensmittelpreisen und der höheren Inflation am meisten litten. Wie sehen Sie das?

Genauso. Arme Menschen mussten schon vorher einen größeren Teil ihres Einkommens für Essen ausgeben. Durch die Inflation ist das Problem noch ausgeprägter. Im Schnitt gibt ein Afrikaner 75 % dafür aus, in reichen Ländern sind es um die 25 %, in Deutschland war es in der Vergangenheit sogar noch weniger. Die Folgen des Krieges schlagen dort härter durch; auch wenn wir das angesichts unserer eigenen Sorgen im Moment vielleicht nicht wahrnehmen oder wahrnehmen wollen.

Wie kann die deutsche Entwicklungszusammenarbeit hier helfen und die Lage abmildern?

Zunächst einmal ist es wichtig zu erkennen: Diese Krisen werden so lange bleiben, wie wir nicht nachhaltig leben; sie haben System. Solange wir nicht viel konsequenter als bisher umsteuern, wird eine Krise auf die nächste folgen. Die Pandemie hängt mit Umweltstress zusammen. Fluchtbewegungen haben immer häufiger den Klimawandel als Ursache. Und der Krieg in der Ukraine trifft uns auch deshalb so stark, weil wir immer noch zu sehr auf fossile Energien angewiesen sind. Die Liste ließe sich leicht fortsetzen, aber worauf es ankommt, ist die Erkenntnis, dass wir ständig Bruchstellen erzeugen, solange wir diese nicht nachhaltige Wirtschaftsform beibehalten.

Noch einmal die Frage: Was kann die deutsche Entwicklungszusammenarbeit dagegen oder dafür unternehmen?

Auf diesen Gesamtzusammenhang müssen wir uns einstellen und kurzfristige Reaktionen auf unmittelbare Krisen – wie Hunger oder Flutopfer – mit langfristiger Entwicklung noch stärker verbinden. Ansonsten könnten wir mit unseren Mitteln bald nur noch Notfallprogramme unterstützen.

Das bedeutet konkret: mehr Übergangshilfe?

Sicherlich auch. Aber ich denke, da müssen wir noch innovativer werden. Einen vielversprechenden Ansatz sehen wir im BMZ in sogenannten „Adaptive Social Safety Nets“, das sind innovative Sozialsicherungssysteme.

Frau sitzt am Schreibtisch und scannt ein Dokument
Funktionierende soziale Sicherungssysteme können bedürftigen Menschen gerade in Notsituationen helfen.

Wie genau funktionieren sie?

Man versucht in normalen Zeiten die ärmsten und verletzlichsten Menschen zu identifizieren, zu unterstützen und sie auch digital zu erfassen. Im Falle einer außergewöhnlichen Krise können solche Informationen genutzt werden, um genau diesen Bevölkerungsgruppen noch stärker unter die Arme zu greifen. Kommt es zum Beispiel im Sahel oder in Ostafrika zu einer Dürre, können wir über derartige Systeme Bäuerinnen und Bauern Saatgut zur Verfügung stellen, damit sie trotzdem anbauen können. Oder sie erhalten Informationen zu Tiergesundheit, so dass sie ihr Vieh auch über eine schwierige Phase hinweg retten können. Solche „conditional cash transfers“ – an Bedingungen geknüpfte Leistungen – helfen in der Not und bei Stresssituationen, funktionieren aber am besten über ein etabliertes soziales Sicherungssystem. Hier werden also langfristige Strukturmaßnahmen mit kurzfristiger Förderung verbunden.

Das wäre dann so etwas wie „Humanitäre Hilfe Plus“?

So könnte man das nennen. Ich gebe Ihnen noch ein Beispiel: Die Bundesregierung hat vorgeschlagen, einen Schutzschirm gegen klimabedingte Risiken aufzubauen. Auch hier werden wieder die Bedürftigsten identifiziert. Wenn es dann zu einer klimabedingten Krise kommt, kann man direkt und kurzfristig helfen. Wir müssen insgesamt stärker strukturell und weniger in Einzelprojekten denken.

Dafür brauchen Sie Digitalisierung, sowohl bei Ihrer eigenen Tätigkeit, als auch in den Entwicklungsländern...

Unbedingt. Wir müssen uns digitaler aufstellen. Aber wir müssen auch darauf achten, wie Entwicklungsländer von der Digitalisierung profitieren können. Dann haben wir ganz neue Möglichkeiten, etwa über einen solchen Schutzschirm, aber auch über die sogenannte Präzisionslandwirtschaft, bei der mit digitalen Mitteln viel weniger Wasser auf die Felder geht und Düngemittel ganz gezielt ausgebracht werden. Dadurch eröffnen sich viele neue Möglichkeiten, um die SDGs voranzubringen.

Gibt es so etwas wie ein klassisches Armutsprofil?

Es ist nicht ganz einfach, hier verlässliche Daten zu erhalten. Aber sicher ist: Frauen sind stärker betroffen, ländliche Gebiete auch. Und dann gibt es große regionale Unterschiede, die häufig mit den natürlichen Voraussetzungen zu tun haben. Auch Minderheiten und Menschen mit Behinderungen haben ein größeres Risiko in Armut zu leben.

Frau mit Kind auf dem Rücken am Wäsche waschen
Frauen haben ein höheres Risiko, in Armut zu geraten, als Männer.

Die Ministerin hat das Ziel einer feministischen Entwicklungspolitik formuliert. Bedeutet das, dass Armutsprogramme künftig stärker auf Frauen abzielen werden?

Wir sind dabei, den Anspruch einer feministischen Entwicklungspolitik noch genauer auszubuchstabieren und in operative Ziele zu übertragen. Die Konzepte dafür entwickeln wir gerade; das braucht noch ein wenig Zeit. Aber es wird mit Sicherheit bedeuten, Frauen stärker zu beteiligen, ihre Position zu verbessern, ihnen mehr Ressourcen zukommen zu lassen und sie stärker in die Problemlösung mit einzubeziehen.

Wie schwierig wird es, angesichts einer Rezession in Deutschland und den großen Herausforderungen im Bundeshaushalt, die Solidarität mit anderen Ländern, mit den Armen in der Welt aufrecht zu erhalten?

Das wird nicht einfach, wir haben hier selber mit Haushaltsstress zu kämpfen. Auf der anderen Seite sehe ich auch ein steigendes Bewusstsein bei vielen Menschen, dass Nichthandeln später teurer wird oder auf uns zurückfällt, etwa in Form von Pandemien.

Sind die SDGs angesichts der insgesamt komplexen Weltlage überhaupt noch zu erreichen?

Wir haben noch sieben Jahre bis 2030 und die jetzigen Indikatoren sind nicht günstig. Ich glaube, die SDGs zu erreichen, wird sehr schwierig. Nichtsdestotrotz sollten wir die Ziele nicht vor der Zeit aufgeben, sondern mit allen Mitteln und viel Kreativität daran arbeiten, den derzeitigen Trend wieder umzukehren.