Interview mit Ursula Schäfer-Preuss

„Wir brauchen die Gender-Brille“

Ein Gespräch mit Dr. Ursula Schäfer-Preuss von UN Women in Deutschland. Sie spricht im Interview mit Friederike Bauer über die Gefahr von Rückschritten und warum Entwicklung ohne Frauen nicht gelingen kann.

Portrait von Ursula Schäfer-Preuss
Dr. Ursula Schäfer-Preuss ist seit 2013 stellvertretende Vorsitzende von UN Women Deutschland und über 35 Jahre im Bereich der Entwicklungspolitik tätig.

Seit mehr als 100 Jahren gibt es den Weltfrauentag. Brauchen wir den eigentlich noch?

Dieser Tag ist unheimlich wichtig. Denn leider sind wir von dem Ziel der Geschlechtergleichheit und Geschlechtergerechtigkeit immer noch weit entfernt. Nach Berechnungen des Schweizer Weltwirtschaftsforums dauert es bei der derzeitigen Geschwindigkeit noch 162 Jahre, bis Frauen gleiche Teilhabe in der Politik erlangen und sogar 169 Jahre, bis es in der Wirtschaft so weit ist. Von den 18 Indikatoren, die für das entsprechende Nachhaltige Entwicklungsziel, SDG 5, stehen, gibt es maßgebliche Fortschritte nur bei der Bildung und bei der Beteiligung von Frauen in der Kommunalverwaltung. Bei allem anderen ist der Weg noch sehr lang.

Bewegen wir uns tatsächlich nach vorn oder nicht vielleicht schon wieder zurück?

Insgesamt geht das Ganze schon in die richtige Richtung, aber eben zu langsam. Allerdings gilt auch: Die Fortschritte, die wir schon gemacht haben, können wieder verloren gehen, durch Krisen und Konflikte und durch konservative Rollenvorstellungen. Die Fortschritte sind nicht selbstverständlich, sondern um sie muss stetig gerungen und gekämpft werden. Bei UN Women heißt es deshalb: „We have to push back the push-back”, was auf Deutsch etwa so viel heißt wie: Wir müssen uns dem Rückschritt entgegenstemmen. Im Englischen klingt es als Wortspiel natürlich besser.

Welcher Faktor ist der größere Bremsklotz: Sind es Krisen und Konflikte oder autokratische Regime mit traditionellen Rollenvorstellungen?

Beides. In Krisenzeiten, dafür gibt es inzwischen reichlich Belege, werden Frauen häufiger Oper sexueller Gewalt. Auch werden sie dann schnell auf ihre Rolle als Hausfrau und Mutter, als „Caretakerinnen“, reduziert und verlieren wirtschaftliche Chancen. In vielen derzeit herrschenden Krisen und Konflikten kann man das gut beobachten. Das hat auch die Corona-Pandemie eindrücklich gezeigt. Die ersten, die ihre – informellen – Jobs zum Beispiel in Indien verloren haben, waren Frauen. Sie hat die Pandemie in vielerlei Hinsicht härter getroffen als Männer, überall auf der Welt. Dazu kommt eine wachsende Zahl an Diktatoren, Autokraten und auch Populisten in Demokratien, die in der Regel männer-dominierte Regime schaffen oder wollen. Wir sehen das gerade sehr deutlich in Argentinien; der neue rechtspopulistische Präsident Javier Milei hat das Frauenministerium abgeschafft und möchte Abtreibungen sogar nach Vergewaltigungen verbieten. Russland hat unlängst die Strafen bei häuslicher Gewalt gelockert. Solche Beispiele gibt es viele. Die Gefahr von Rückschritten ist also real und besonders bei solchen Regimen hoch.

Zwei Frauen, die in Indien auf einem Feld arbeiten
Frauen fehlt häufig der Zugang zu Ressourcen, sei es Wasser, Gesundheitsdienstleistungen oder auch Landbesitz.

Es gibt diverse fundierte Studien, von der Weltbank bis zur OECD, die zeigen, dass die Wirtschaftskraft eines Landes steigt, wenn Frauen angemessen beteiligt sind. Warum verstehen Männer an der Macht das nicht? Es könnte doch auch zu ihrem Nutzen sein?

Diese Studien gibt es in der Tat. Das Bruttoinlandsprodukt würde deutlich steigen, wenn Frauen ihren Fähigkeiten und Talenten entsprechend am Wirtschaftsleben beteiligt würden. Daran besteht kein Zweifel. Aber hier geht es um Macht über Frauen und um Traditionen, die offenbar nur schwer zu brechen sind, auch wenn sie eigentlich schaden. Hinzu kommt: Männer sind häufig eher bereit, in Konflikte – auch Verteilungskonflikte – reinzugehen als Frauen. Und sie können sich gegenseitig besser unterstützen.

Liegt es also an den Frauen, dass der Fortschritt eine Schnecke ist?

In erster Linie liegt es an verkrusteten Strukturen, die es aufzubrechen gilt. Aber ja, es liegt auch an uns. Frauen müssen noch risikobereiter und streitbarer werden.

Wie sieht es in der Entwicklungszusammenarbeit aus? Seit etwa einem Jahr verfolgt die Bundesregierung eine feministische Außen- und Entwicklungspolitik. Halten Sie das für sinnvoll und zielführend?

Absolut. Mit den drei „R“ – Rechte, Ressourcen, Repräsentanz – haben die Ministerinnen Svenja Schulze und Annalena Baerbock den Nagel auf den Kopf getroffen. Wir wissen, dass Entwicklung ohne Frauen nicht geht und nicht nachhaltig ist. Und wir wissen auch, dass Friedensprozesse stabiler sind, wenn Frauen ein Mitspracherecht haben. Deshalb erachte ich es als sehr sinnvoll, die Außen- und Entwicklungspolitik durch eine „Genderbrille“ zu betrachten und entsprechend zu gestalten.

Das hat auch viel Kritik hervorgerufen, wurde wahlweise als nutzlos bis lächerlich bezeichnet. Dem stimmen Sie also nicht zu?

Überhaupt nicht. Erstens ist es einfach ungerecht, die Hälfte der Menschheit in ihrem Leben und ihren Möglichkeiten zu beschränken. Hier werden fundamentale Rechte missachtet. Außerdem habe ich in meiner langen Tätigkeit in der Entwicklungszusammenarbeit selbst immer wieder erfahren, welchen Unterschied es macht, alle Bevölkerungsteile in die Planung und das Design eines Projektes einzubeziehen, wie ein Wasserprojekt in Brasilien zum Beispiel plötzlich funktionierte und Bestand hatte, als Männer und Frauen beteiligt wurden. Wichtig ist dabei allerdings, die Umsetzung richtig hinzubekommen, den Partnerländern nichts überzustülpen, sondern in einen echten Dialog über den besten Weg zu mehr Gleichberechtigung zu kommen.

Drei Frauen arbeiten an elektrischen Schaltungen
Gleichberechtigte Teilhabe an Entwicklung wird nicht zuletzt durch gute Ausbildung und hochwertige Jobs ermöglicht.

Die Welt hat sich geändert. Wir laufen gerade in eine neue Phase geopolitischer Konkurrenzen und globaler Machtkämpfe. Ziehen wir uns in einer solchen Zeit nicht selbst aus dem Rennen um Einflusssphären, wenn wir immer neue Bedingungen an eine Zusammenarbeit stellen, während andere ohne Rücksicht auf Menschen- und Frauenrechte Geld verteilen und Infrastruktur errichten?

Deutschland steht nicht allein mit dieser Politik. Auch Länder wie Frankreich und Kanada sind dabei. In der EU gibt es einen Gender Action Plan; das heißt, die EU zieht am selben Strang. Klar ist, je mehr Geber diesen Ansatz verfolgen, desto einfacher wird es. Außerdem hat in manchen Entwicklungsländern inzwischen ein Erwachen eingesetzt, etwa in Bezug auf Finanzierungen aus China, weil die Hilfe bei genauem Hinsehen so nützlich dann doch nicht ist. Erstens, weil es sich häufig um Darlehen handelt, die zurückgezahlt werden müssen, wodurch die Verschuldung steigt. Und zweitens, weil die Chinesen in der Regel ihr eigenes Personal mitbringen und in Rekordgeschwindigkeit Infrastruktur hinstellen, ohne darauf zu achten, wie das nachher lokal weitergeführt werden kann. Da ist vieles problematisch. Deutschland dagegen gilt als gründlicher und verlässlicher Partner.

Deutschland wird Ihrer Ansicht nach also nicht seinen guten Ruf verlieren, weil es eine feministische Komponente in seine Zusammenarbeit einbaut?

Das glaube ich nicht. Und habe dafür auch konkrete Hinweise: Bei der letzten Jahresversammlung der Asiatischen Entwicklungsbank haben sich Partner sehr positiv geäußert. Sie waren voll des Lobes ob der feministischen Außen- und Entwicklungspolitik. Und das waren wohlgemerkt Repräsentanten von Finanzministerien, die generell als konservativ gelten. Sie sehen darin einen wichtigen Garanten für Fortschritt und Entwicklung. Ich war selbst überrascht über diese überaus wohlwollenden Rückmeldungen.

Sie überblicken viele Jahrzehnte deutscher Entwicklungspolitik. Bis zu dieser feministischen Ausrichtung war es doch bestimmt auch hier ein weiter Weg...?

Allerdings. Das gilt sowohl für die Projekte und Programme selbst, aber auch für die Anzahl der Frauen im Ministerium und den Durchführungsorganisationen. Ich begann meine Karriere 1975 in der KfW Entwicklungsbank; damals befanden sich unter den 300 „Professionals“ drei Frauen. Im Ministerium, in das ich nach meiner KfW-Traineezeit wechselte, sah es etwas besser, aber nicht rosig aus. Als ich 2000 zur Abteilungsleiterin im BMZ wurde, war ich die erste Frau auf einem solchen Posten, 40 Jahre nach Gründung des Ministeriums. Heute ist das zum Glück vollkommen anders – und soll sich durch die Feministische Entwicklungspolitik, die ja auch nach innen wirkt, weiter ändern.

Die Lage der Frauen insgesamt betrachtet, was überwiegt bei Ihnen: Zuversicht oder Sorge?

Ich bleibe optimistisch, denn ich habe den Fortschritt über die Jahre beobachten können. Das bedeutet nicht, dass wir nicht mehr Gas geben müssen. Das ist unbedingt nötig, und dafür setze ich mich auch persönlich und ehrenamtlich bei UN Women ein.

Was ist Ihre Prognose, wie lange brauchen wir den Frauentag noch?

Noch eine ganze Weile, aber hoffentlich nicht weitere 100 Jahre.