Meldung vom 12.10.2017 / KfW Entwicklungsbank

"Unterstützung von außen kann der entscheidende Anstoß sein"

Bärbel Dieckmann, Präsidentin der Welthungerhilfe, zum Welthunger-Index 2017

Porträt von Bärbel Dieckmann
Bärbel Dieckmann war von 1994 bis 2009 Oberbürgermeisterin von Bonn. Seit dem Jahr 2008 hat sie das Ehrenamt Präsidentin der Welthungerhilfe inne.

Der Welthunger-Index 2017 beschreibt die weltweite Ernährungssituation nach Regionen in 119 Ländern. Dabei werden als Indikatoren der Anteil der unterernährten Menschen an der Gesamtbevölkerung, Auszehrung und Wachstumsverzögerung bei Kindern und die Kindersterblichkeit herangezogen. Der neue Bericht zeigt, dass seit dem Jahr 2000 große Fortschritte bei der Bekämpfung des Hungers gemacht wurden. Allerdings ist die Situation in 51 Ländern nach den Kategorien des Berichtes weiterhin "sehr ernst" oder "ernst". In einigen Ländern ist die politische Lage derzeit zudem so prekär, dass keine genauen Aussagen über die Hungersituation gemacht werden können.

Frau Dieckmann, seit vielen Jahren stellt die Welthungerhilfe im Oktober den Welthunger-Index vor. Was ist seitdem erreicht worden?

Seitdem ist der Hunger weltweit gesunken, insgesamt um 27 Prozent seit dem Jahr 2000. Es gibt in diesem Jahr aber auch eine schlechte Nachricht. Laut den aktuellen Zahlen der UN-Landwirtschafts- und Ernährungsorganisation (FAO) hungern derzeit immer noch 815 Millionen Menschen, 38 Millionen mehr als 2016. Das liegt vor allem an Kriegen und Konflikten in vielen Ländern, an Dürren und an den Folgen des Klimawandels.

An einigen dieser Faktoren kann die Welthungerhilfe wenig ändern: Ist es nicht frustrierend, wenn Sie sehen, dass Erfolge in der Hungerbekämpfung und der Ernährungssicherung durch Krieg und Gewalt wieder zerstört werden?

Ja, das ist es eindeutig. Wir arbeiten in vielen Ländern, in denen es gewaltsame Konflikte gibt wie dem Südsudan, der Zentralafrikanischen Republik oder Syrien. Wir machen gute Arbeit, unterstützen die Menschen dabei, eine gute Zukunft für sich zu gestalten, um ihre Kinder und Familien zu ernähren. Dann wird durch Gewalt wieder alles zerstört, weil sie ihre Dörfer verlassen müssen, weil sie flüchten müssen, häufig in Nachbarländer. Solche Rückschritte sind schwierig.

Der Welthunger-Index, den Sie vorstellen, ermittelt die Ernährungssituation in Regionen und Ländern anhand eines komplexen Ansatzes. Warum?

Wir haben den Welthunger-Index gewählt, weil wir daran besser die langfristigen Entwicklungen erkennen. Wir können damit zeigen, wie viele Kinder unterernährt sind und in welchen Regionen die Unterernährung besonders hoch ist. Dadurch lassen sich ganz gezielte Handlungsansätze für Veränderungen erarbeiten. Außerdem wählen wir immer ein Schwerpunktthema. Im diesjährigen Welthunger-Index haben wir das Thema Ungleichheit, Hunger und Mangelernährung gewählt, um zu zeigen, dass eben auch Ungleichheit eine Ursache für Hunger ist und nicht nur Konflikte und Kriege.

Aber was kann die Entwicklungszusammenarbeit leisten, um solche strukturellen Probleme wie Ungleichheit und Diskriminierung etwa von Frauen oder ethnischen Minderheiten zu beseitigen oder zu bekämpfen?

An Ungleichheit kann man etwas verändern. Wir können die Menschen in den Ländern und Projekten, in denen wir arbeiten, darin bestärken, ihre Rechte wahrzunehmen. Wir können sie ermutigen Ungleichheiten, die es innerhalb von Bevölkerungsgruppen gibt, anzugehen – zum Beispiel die Ungleichheit zwischen Frauen und Männern. Dabei geht es darum, für die Gleichberechtigung von Frauen einzutreten. Es gibt also durchaus viele Möglichkeiten, um aktiv zu werden.

Sehen Sie Fortschritte bei der Hungerbekämpfung?

Zunächst einmal zeigt der Welthunger-Index, dass die Ernährungssituation über die Jahre besser geworden ist. Es gibt derzeit nur ein Land, in dem es gravierenden Hunger gibt – das ist die Zentralafrikanische Republik. Darüber hinaus gibt es einige Länder mit sehr ernster Lage wie Tschad, Liberia, Sudan und Jemen. In Asien gibt es jedoch Länder mit großen Fortschritten. Dazu gehören auch Kambodscha oder Myanmar. Ferner gibt es in ganz Lateinamerika kein Land mehr, das sich in einer ernsten Hungersituation befindet. Und es gibt eben auch in Afrika eine ganze Reihe von Staaten, deren Situation nicht gravierend oder sehr ernst ist, wie Burkina Faso oder Benin.

Die Weltgemeinschaft will Hunger und Mangelernährung bis 2030 beenden. Wie kann das erreicht werden?

Um dieses ambitionierte Ziel eine Welt ohne Hunger bis 2030 zu erreichen, sind weiterhin große Anstrengungen notwendig: Wir müssen ausreichend in die kleinbäuerliche Landwirtschaft investieren. Es müssen zusätzliche Investitionen in die Entwicklung von Wirtschaft, von Wertschöpfungsketten und guter Regierungsführung fließen. Und natürlich müssen die genannten Probleme wie Kriege, Konflikte und auch der Klimawandel angegangen und gelöst werden. Gerade auf die letztgenannten Herausforderungen haben wir als Nichtregierungsorganisationen nur geringen Einfluss. Hier handelt es sich um politische Entscheidungen, die getroffen werden müssen. Deshalb wird zum Beispiel die im November in Bonn stattfindende Klimakonferenz wieder eine wichtige Rolle spielen.

Und wie wirkt die Welthungerhilfe dann an diesem Ziel mit, auch in Zusammenarbeit mit anderen Entwicklungsorganisationen?

Wir arbeiten in 38 Ländern. Die Mehrzahl dieser Länder ist in Afrika. Ich habe in den neun Jahren als Präsidentin kein einziges Projekt besucht, ganz gleich ob in Asien, Afrika oder Lateinamerika, in dem es den Menschen durch unsere Arbeit nicht besser ging. Das gilt auch für Krisenländer wie den Südsudan. Ohne die Hilfe von Nichtregierungsorganisationen wäre die Situation vollkommen hoffnungslos für die dort lebenden Menschen.

Diese Arbeit machen wir nicht allein, in vielen Ländern und Projekten gibt es eine intensive Zusammenarbeit mit anderen Organisationen. Wir ergänzen uns oft wie etwa in Flüchtlingslagern, wo wir die Nahrungsmittel bereitstellen und andere medizinische Versorgung leisten. Es gibt immer zwei Stränge, die gefahren werden müssen: Es bedarf einer guten politischen Lösung. Gleichzeitig müssen wir als Nichtregierungsorganisationen aktiv werden, damit die Menschen vor Ort gestärkt werden, ihnen Kraft gegeben wird, um den Mut zu erhalten, ihren Weg der friedlichen Entwicklung weiterzugehen.

Wenn Sie auf die vergangenen Jahre zurückblicken. Auf welche Leistungen der Welthungerhilfe sind Sie besonders stolz?

Stolz ist vielleicht der falsche Ausdruck, aber wir sind immer froh, wenn unsere Arbeit getan ist und wir Regionen und Projekte verlassen können. Mit anderen Worten, wenn die Hilfe zur Selbsthilfe funktioniert. In vielen Ländern Lateinamerikas etwa unterstützen wir keine konkreten Projekte zur Ernährungssicherung mehr, sondern geben Hilfestellungen für die lokalen Organisationen, die nun selbstständig Prozesse wie Landreformen in ihren Ländern umsetzen wollen.

Wo sehen Sie noch Verbesserungsbedarf bei der Arbeit der Welthungerhilfe?

Unsere Kollegen vor Ort lernen jeden Tag, denn die Herausforderungen ändern sich und neue Methoden oder Ansätze werden entwickelt. Die wiederkehrenden Fragen, die wir uns stellen, lauten: Was gibt es für landwirtschaftliche Weiterentwicklungen? Gibt es bessere Saatgüter? Gibt es bessere Anbau- oder Wassergewinnungsmethoden? Das ist ein ständiger Prozess. Wichtig bleibt, dass wir weiterhin eng mit der Zivilgesellschaft in den einzelnen Ländern zusammenarbeiten. Ich bin fest davon überzeugt, dass am Ende nur die Menschen selbst ihr Land voranbringen können. Die Unterstützung von außen kann der entscheidende Anstoß sein, aber am Ende muss es in den Ländern selbst geschehen.

Das Interview führte Michael Ruffert