Meldung vom 23.06.2016 / KfW Entwicklungsbank

"Die Verkehrswende ist keine Fiktion"

Tom Kirschbaum entwickelt Mobilitätskonzepte für Städte

Der Berliner Unternehmer Tom Kirschbaum hat 2014 das Start-up "ally" gegründet, das digitale Mobilitätskonzepte für Städte in der ganzen Welt entwickelt. Durch Datensammlung in einer Cloud wird es möglich, den schnellsten Weg durch den Verkehr zu finden. Im Gespräch erklärt der Mobilitätsexperte, warum neue Technologien die Städte vor dem Verkehrskollaps bewahren können.

Städte wachsen und mit ihnen das Verkehrsaufkommen. Viele Metropolen rund um den Globus versinken gleichzeitig in Staus und schlechter Luft. Welche Chancen zum Umsteuern ergeben sich aus der Digitalisierung?

Entgegen der landläufigen Meinung habe ich sein sehr positives Bild von den Städten der Zukunft, weil ich der Überzeugung bin, dass Technologien einen erheblichen Beitrag dazu leisten können, den Verkehr effizienter zu steuern und damit wieder mehr Lebensqualität in die Städte zu bringen.

Die jetzige Realität sieht anders aus…

Schon mit der heutigen Technologie können wir beim Verkehr viel erreichen, wenn wir das Angebot besser auf die Nachfrage abstimmen. Davon sind wir relativ weit entfernt. Unser Nahverkehr funktioniert immer noch weitgehend so, als gäbe es das Internet nicht – statische Fahrpläne, statische Routen, Konzepte aus den achtziger Jahren. Allein mit Vernetzung und Apps können wir den Verkehr schon ganz anders regeln, besser auf Stoßzeiten etc. einstellen. Den nächsten großen Schub wird dann das autonome Fahren bringen, von dem wir annehmen, dass es bereits ab 2020 möglich sein wird.

Stärkt das nicht den Autoverkehr, den es doch eigentlich einzudämmen gilt?

Autonomes Fahren bedeutet nicht, dass Menschen allein in einem Fahrzeug sitzen. Sondern es bedeutet, dass der Nahverkehr so intelligent und komfortabel ist wie heute ein Taxi. Unsere Vision ist, dass man vom öffentlichen Nahverkehr – das kann das selbstfahrende Auto oder der selbstfahrende Bus sein – mehr oder weniger vor der eigenen Haustür abgeholt wird. Damit wird das eigene Auto in der Stadt überflüssig.

Heißt das, Individualverkehr und öffentlicher Nahverkehr verschwimmen?

Genau. Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Transportmitteln wird fließend. Das Transportmittel richtet sich nach der Nachfrage.

Wie sieht das konkret aus? Wie komme ich zum Beispiel vom Frankfurter Nordend zur KfW? Oder von Charlottenburg nach Berlin Mitte?

Sie teilen einem System mit, dass Sie von A nach B wollen, entweder, indem Sie jetzt eine Anfrage stellen oder indem Sie schon einen regelmäßigen Fahrtermin haben. Das System entscheidet dann, welche Ressourcen in der Nähe sind, um Sie so schnell wie möglich zu befördern. Es lässt Sie dann nur noch wissen, wie lange es dauert, bis Sie abgeholt werden, wo genau Sie einsteigen müssen und wieviel die Fahrt kostet.

Habe ich wegen anderer Mitfahrer nicht einen Zeitverzug, den ich im Taxi nicht hätte?

Sie werden nicht ganz so schnell sein wie das Taxi, aber deutlich schneller als ein Bus, der an jeder Ecke hält. Mit Technologie können wir peu à peu die Effizienzen steigern. Das System lernt und wird immer besser.

Gilt das alles nur für die Industrieländer oder kann man sich solche Lösungen auch für die Entwicklungsländer vorstellen?

Ich glaube sogar, dass die Entwicklungsländer hier gerade die Vorreiter sein werden. Genau wie beim Mobiltelefon in Afrika können Städte dort Entwicklungsstufen überspringen, weil sie noch nicht so festgelegt sind und die Märkte oft deregulierter sind als in Europa. Meiner Ansicht nach sind sie für solche Technologien deshalb besonders aufnahmebereit. Und wir spüren bereits ein großes Interesse aus allen Weltgegenden.

Was kosten solche Systeme?

Dafür braucht es gar nicht so viel. Das bestehende Verkehrsangebot zu digitalisieren – die Voraussetzung für jedes moderne System – braucht nur wenige Monate und bedeutet einen Aufwand im sechsstelligen Bereich. Für einen niedrigen siebenstelligen Betrag kann eine Stadt auf dieser Basis ihr System effizienter gestalten, neue Routen planen und nachfragegesteuerte Busse fahren lassen. Das Ganze dauert auch nicht Jahre, sondern zwischen sechs und zwölf Monaten, weil die Technologie fertig ist und nur an lokale Begebenheiten angepasst werden muss.

Es kostet nicht sehr viel, die Städte sind interessiert; das klingt ein wenig nach Sciencefiction…

Das ist keine Fiktion. Natürlich können wir Städte wie Jakarta nicht von heute auf morgen auswechseln. Aber schon kleine Änderungen können ja große Unterschiede mit sich bringen. Wenn Sie von den zwei Stunden im Stau morgens und abends je eine Viertelstunde sparen, haben Sie schon eine halbe Stunde am Tag gewonnen. Das sind 2,5 Stunden pro Woche, die Sie länger arbeiten, mit Ihren Kindern oder mit Hobbys verbringen können. Und wenn eine Viertelstunde möglich ist, dann ist bald auch eine halbe Stunde möglich. Ich bin überzeugt, das ist machbar – und zwar nahezu überall, Zug um Zug.

Welche Möglichkeiten sehen Sie für Entwicklungsinstitutionen, diesen Wandel zu unterstützen oder zu befördern?

Sie könnten festlegen, dass kein Mobilitätsprojekt ohne den Aspekt der Digitalisierung durchgeführt, die nächste Welt immer gleich mitgedacht wird.

Wir können also die globale Verkehrswende tatsächlich in absehbarer Zeit schaffen?

Kurze Antwort: Ja.

Tom Kirschbaum
Tom Kirschbaum