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„Eine globale Bildungskrise“

Interview mit Prof. Dr. Maria Böhmer, Präsidentin der Deutschen UNESCO-Kommission über die Folgen von Corona für den Bildungssektor und warum es hier ein Nord-Süd-Gefälle gibt.

Maria Böhmer, Präsidentin deutsche UNESCO-Kommission
Prof. Dr. Maria Böhmer ist seit dem 8. Juni 2018 Präsidentin der Deutschen UNESCO-Kommission.

Die Corona-Pandemie scheint langsam abzuebben. Aber sie hat, so heißt es, die größte Bildungskrise seit dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst. Wo zeigte und zeigt sich das am stärksten?

Auf dem Höhepunkt der Pandemie hatten weltweit fast 1,6 Milliarden Menschen keinen Zugang zu Bildung. Wir haben es also mit einem globalen Phänomen zu tun, das langfristige Konsequenzen zeitigen wird. Manche Länder waren stärker betroffen als andere, ein Trend zeichnet sich aber ab: Diejenigen, die schon vor der Krise im Bildungssystem nur schwer Fuß fassen konnten, sind bis heute am stärksten von den negativen Folgen betroffen.

Ist es wirklich ein globales Problem, das sich gleichmäßig über die Welt verteilt - oder sind einige Weltregionen besonders betroffen?

Wir sehen ein Nord-Süd-Gefälle. Wurde der Unterricht in fast allen Ländern mit hohem Einkommen zu Beginn der Pandemie in der einen oder anderen Form fortgesetzt, gelang das nur in weniger als der Hälfte aller Länder mit niedrigem Einkommen. Im Globalen Süden zeigt sich die Krise bis heute stärker, weil die strukturellen Defizite im Bildungssystem bereits vor der Pandemie ausgeprägter waren. Mehr als im Norden fehlen dort etwa gut ausgebildete Lehrkräfte.

Hat die UNESCO Informationen darüber, wie viel Schulzeit seit Beginn der Krise verpasst wurde?

Im Jahr 2020 blieben Schulen auf der ganzen Welt für durchschnittlich 79 Unterrichtstage geschlossen. Aber auch hier sehen wir Unterschiede. Länder mit hohem Einkommen waren mit 53 Schließtagen nicht so stark betroffen wie weniger wohlhabende Staaten. Dort war für bis zu 115 Tage kein Unterricht möglich. Auch Mitte 2021 waren noch hunderte Millionen Lernende weltweit betroffen.

Kinder auf einem Schulhof
In ärmeren Ländern wurden Schulen pandemiebedingt deutlich häufiger geschlossen als in wohlhabenderen Staaten.

In Deutschland haben wir rasch auf digitale Unterrichtsformate umgestellt, mal mehr oder weniger erfolgreich. Viele Kinder in Entwicklungsländern haben aber noch keinen Zugang zum Internet. Heißt das, sie hatten einfach gar keinen Unterricht?

Der Fernunterricht wurde weltweit sehr unterschiedlich organisiert. Das Spektrum reichte von Arbeitsblättern zum Mitnehmen bis hin zu ausgeklügelten Online-Plattformen. Gerade in Ländern mit nur wenigen Internetanschlüssen haben Fernsehen und vor allem das Radio eine wichtige Rolle gespielt. Allerdings ließ sich dabei schwerer als beim E-Learning nachvollziehen, ob die Lernangebote auch wahrgenommen wurden.

Wissen Sie, wie Schülerinnen und Schüler den Schulausfall fanden? An sich „jubeln“ sie ja, wenn es zum Beispiel mal Hitzefrei gibt. War das während der Hochphase der Pandemie anders?

Für viele Schülerinnen und Schüler stellte die Situation eine große Belastung dar. Der Lernstoff musste weiterhin bewältigt werden, aber die Rahmenbedingungen hatten sich durch die Pandemie radikal verändert. Schulschließungen, neue Unterrichtsformen und mangelnde soziale Kontakte trafen diejenigen besonders hart, die auf individuelle Unterstützung und den gemeinsamen Klassenraum am meisten angewiesen sind. Nicht umsonst hat die Bundesschülerkonferenz seinerzeit darauf hingewiesen, dass Distanzunterricht den Präsenzunterricht weder didaktisch noch qualitativ ersetzen kann.

Schulkinder im Unterricht mit Lehrerin
Schulkinder brauchen zum erfolgreichen Lernen Unterstützung durch Lehrkräfte – Distanzunterricht kann das nicht leisten.

Besonders schwierig soll die Lage für Mädchen gewesen sein. Was genau weiß man darüber?

International wurden bei der Bildung von Mädchen in den letzten Jahrzehnten große Fortschritte gemacht. Die Corona-Pandemie droht uns hier deutlich zurückzuwerfen. Die UNESCO befürchtet, dass aufgrund schrumpfender Bildungsbudgets künftig weniger Mädchen eingeschult werden. Ihren Schätzungen zufolge könnten zudem 11 Millionen Mädchen und junge Frauen aufgrund der Pandemie die Schule abgebrochen haben. Das gilt vor allem für ärmere Länder.

Inzwischen ist die Rede von einer „verlorenen Generation“, die dadurch heranwächst. Halten Sie diesen Begriff für angemessen?

Wenn wir nicht energisch gegensteuern, wird sich das in Zukunft rächen. Fest steht, dass der Lernrückstand noch nicht aufgeholt ist. Wenn wir die Lücke, die die Pandemie gerissen hat, nicht schließen, könnte das nach Schätzungen der Weltbank in den kommenden Jahren zu immensen Einkommensverlusten führen – gerade in der Generation, die von Schulschließungen betroffen war.

Was muss Ihrer Ansicht nach dringend geschehen, damit die Bildungslücke nicht noch größer wird?

Vielen Eltern, Kindern und Jugendlichen ist es trotz aller Herausforderungen gelungen, gut durch die Krise zu kommen. Deshalb besteht die Aufgabe darin, vor allem diejenigen in den Blick nehmen, denen die Umstände am meisten zu schaffen machten und die den Anschluss verloren haben. Das bedeutet: mehr Kontakt zu Familien, Hilfe bei der Digitalisierung und individuelle Unterstützung beim Lernen.

Welche Bedeutung hat Bildung in der Phase nach der Pandemie?

Wegen der Krise sind auch Bildungsbudgets unter Druck geraten. Aber ich warne vor Kürzungen! Wir dürfen nicht an der falschen Stelle sparen. Bildung ist kein Posten unter vielen. Bildung ist Voraussetzung dafür, unsere Gesellschaften krisenfest zu machen. Nur dank hochwertiger Bildung konnten Corona-Impfstoffe in Rekordzeit entwickelt werden. Nur mit chancengerechter Bildung werden wir Antworten auf den Klimawandel finden. Nur durch inklusive Bildung den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken.

Was müsste dringend geschehen, um Bildungssysteme stärker zu machen, auch mit Blick auf künftige Krisen?

Die Krise hat Schwachstellen offengelegt, die wir schon seit einiger Zeit im Blick haben. Wir brauchen mehr Lehrkräfte, und wir müssen sie noch besser auf die Herausforderungen des Schulalltags vorbereiten. Wir haben aber auch einen Digitalisierungsschub erlebt, den wir jetzt in die richtigen Bahnen lenken müssen, damit davon alle profitieren und niemand auf der Strecke bleibt. Dafür brauchen wir eine barrierefreie Infrastruktur, auf die Schüler und Schülerinnen sowie Schulen zugreifen können. Lehrerinnen und Lehrer müssen wir vor allem mit Know-how und Zeit ausstatten, damit sie ihren Unterricht in neue pädagogische Konzepte übersetzen können.

Zwei Lehrerinnen einer Grundschule in Mosambik
Zwei Lehrerinnen an einer Grundschule in Mosambik

Welche Rolle kann die Entwicklungszusammenarbeit hier spielen?

Entwicklungszusammenarbeit allein ist kein Allheilmittel, aber dennoch von großer Bedeutung. Deshalb dürfen ihre Budgets für Bildung nicht sinken. Gerade für die Bildungssysteme in ärmeren Staaten ist das eine enorme Belastung, die wir im Auge behalten müssen. Im globalen Vergleich zählt Deutschland übrigens zu den größten Bildungsfinanziers. Das ist eine wichtige und richtige Rolle, die unser Land auch in Zukunft spielen sollte!

Halten Sie SDG 4 bis 2030 für noch erreichbar?

Wir kommen voran, aber deutlich zu langsam. Die Corona-Pandemie ist zweifellos ein Rückschlag. Schon vor der Gesundheitskrise hatten mehr als 250 Millionen Kinder und Jugendliche keinen Zugang zu Bildung. Diese Zahl wird weiter wachsen, wenn wir jetzt nicht handeln. Dazu kommt eine neue Hungerkrise, bedingt durch den Ukraine-Krieg, die viele Familien ebenfalls vor große Herausforderungen stellt und sie zum Teil davon abhält, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Das Ziel zu erreichen, ist zuletzt nicht einfacher geworden, aber nach wie vor möglich.

Das Interview führte Friederike Bauer.